Theodizee – Wie kann Gott das Böse in der Welt zulassen!

 Wovor Meisterdenker Immanuel Kant als Philosoph scheute, ist für Muslime ein leicht zu lösendes Problem. Immer wieder sagen Leute: »Wir können angesichts der vielen Übel dieser Welt nicht gläubig sein, weil wir nicht glauben können, daß ein barmherziger Gott sie, wenn es ihn gäbe, zulassen würde!« – Dies ist ein ernstes Problem, von dem es heißt, Epikur hätte es folgendermaßen formuliert: »Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er es kann und nicht will, dann ist er mißgünstig, was Gott ebenfalls fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl mißgünstig wie auch schwach und ist dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, woher kommen dann die Übel, und warum nimmt er sie nicht weg?«
Dieses Problem der Rechtfertigung eines guten Gottes angesichts der Übel der Welt heißt bei Theologen und Philosophen Theodizee, und es ist bemerkenswert, daß der deutsche Philosoph Immanuel Kant eine kleine Abhandlung Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (A. A., Bd. VIII, S. 253 ff.) verfaßt hat.
Im folgenden soll gezeigt werden, daß sich das Problem der Theodizee ganz einfach auflöst, wenn man es aus muslimischer Perspektive heraus betrachtet.
Der entscheidende Punkt einer muslimischen Betrachtungsweise des Problems liegt darin, daß wir unseren Blickwinkel nicht auf das Diesseits beschränken, sondern über die Grenzen der Welt hinausgehen und das Jenseits mit in den Blick nehmen. Indem wir dies tun, folgen wir dabei der Offenbarung, nach der es einen Jüngsten Tag geben wird, an dem die Menschen den Lohn für ihr Leben im Diesseits erhalten. Und sofern jemand beispielsweise im Diesseits viel gelitten hat, wird er vom barmherzigen Herrn am Tage des Gerichts im Jenseits dafür reichlich entlohnt werden. Mit anderen Worten: Alle Übel dieser Welt reichen nicht hin, um über die Barmherzigkeit Gottes zu urteilen. Denn nach Seinem eigenen Zeugnis und den Zeugnissen der von Ihm gesandten Propheten findet die eigentlich »Abrechnung« im Jenseits statt. Was uns geschickt wird, sind Prüfungen oder Strafen. Die diesseitigen Strafen bewahren uns im Sinne einer direkten Gewinnausschüttung vor Strafe im Jenseits. Und Prüfungen geben uns Gelegenheit, endlose Belohnungen einzuheimsen. Es gilt zu verstehen, daß wie die Belohnung des Guten ein Gut ist, die Bestrafung des Bösen ebenfalls ein Gut ist.
Großsheikh Abdullah Fa‘iz ad-Daghistânî vom ehrenwerten Naqshibandi-Orden sprach einmal über unbeliebte Dinge und beschrieb unsere Lage im Leben. »Nichts läuft so, wie wir es gern hätten, und niemand kann seine Bestimmung lenken. Wir sind keine Führer, sondern werden geführt. Dieses Leben ist angefüllt mit unbeliebten Dingen, und inmitten einer jeden Wohltat kommt so etwas mit wie der Kern in der Olive. Warum wurden diese Dinge geschaffen? Wir sind in diesem Leben wie ein Mann, der in stürmische See gefallen ist und mit jeder neuen Welle herumgeworfen wird. Wie sollen wir uns angesichts dieser Wellen verhalten? Es gilt, Geduld zu üben. Allah der Allmächtige sendet diese Wellen und erklärt: »Ich schuf Leben und Tod und prüfe eure Tugend.« Sind wir angesichts widriger Dinge geduldig, gibt uns Allah unendliche Belohnung. Wenn du das weißt, könntest du angesichts unbeliebter Dinge nicht bloß geduldig sein, sondern in widrigen Umständen geradezu Vergnügen empfinden, da du denkst: »Jetzt sieht Gott auf mich, da Er mich testet!« Um die gewünschte Gegend zu erreichen, mußt du zuvor die beschwerliche Gegend durchqueren. Stimmst du dieser Bedingung nicht zu, kannst du sie nie erreichen. Niemand betritt das Paradies, wenn er nicht zuvor die Höllenbrücke überquert hat. Das ist Göttliche Weisheit. Wer Vergnügen wünscht, muß allen Widerwärtigkeiten gegenüber Geduld bewahren. Aber wir ignoranten Leute fliehen vor unbeliebten Dingen und laufen den erwünschten Dingen hinterher, ohne sie zu erreichen. Das ist der Test Allahs des Allmächtigen für Seine Diener. Wir sollten nicht flüchten, sondern Haltung bewahren.« (vgl. Mercy Oceans Book Two, S. 83 f.)
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant hat etwas Ähnliches wie das von Großsheikh Abdullah Beschriebene im Blick, wenn er in der schon erwähnten Abhandlung schreibt: »Die dritte Auflösung des Knotens soll diese sein: daß uns Gott um einer künftigen Glückseligkeit willen, also doch aus Güte, in die Welt gesetzt habe, daß aber vor jener zu hoffenden überschwenglich großen Seligkeit durchaus ein mühe- und trübsalvoller Zustand des gegenwärtigen Lebens vorhergehen müsse, wo wir eben durch den Kampf mit Widerwärtigkeiten jener künftigen Herrlichkeit würdig werden sollten. – Allein, daß diese Prüfungszeit (der die Meisten unterliegen, und in welcher auch der Beste seines Lebens nicht froh wird) vor der höchsten Weisheit durchaus die Bedingung der dereinst von uns zu genießenden Freuden sein müsse, und daß es nicht thunlich gewesen, das Geschöpf mit jeder Epoche seines Lebens zufrieden werden zu lassen, kann zwar vorgegeben, aber schlechterdings nicht eingesehen werden, und man kann freilich diesen Knoten durch Berufung auf die höchste Weisheit, die es so gewollt hat, abhauen, aber nicht auflösen: welches doch die Theodicee verrichten zu können sich anheischig macht.« (a. a. O., S. 260)
Sachlich-systematisch betrachtet, zeigt sich die kantische Position insofern als berechtigt, als die Berücksichtigung des Jenseits in der Philosophie nicht erlaubt sein kann, die ja alles durch eigenes Denken herauszufinden beansprucht, Offenbarung im reinen Denken keinen Platz hat. Die philosophischen Vertreter der Rechtfertigung eines guten Gottes angesichts der Übel der Welt überschreiten mit der Berufung auf jenseitiges Glück die Grenze des philosophischen Denkens. Kant sagt nicht, daß das Problem der Übel der Welt mit Blick auf einen allmächtigen und barmherzigen Gott nicht lösbar sei, sondern nur, daß dieses Problem nicht innerhalb der Philosophie zu lösen ist, was sich schon im Titel seiner Abhandlung Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee ausdrückt.
Wir Muslime aber stehen nicht unter der Beschränkung der Philosophie. Und wir pflegen auch nicht jene Bitterkeit, die sich bei Kant beispielsweise dort ausdrückt, wo er in obigem Zitat in Klammern von einer Prüfungszeit spricht, »der die Meisten unterliegen, und in welcher auch der Beste seines Lebens nicht froh wird«. Muslime pflegen nicht jenen zwanghaften Pessimismus Kantens, sondern sind glücklich im Diesseits und im Jenseits. Sie sind glücklich und stolz, daß der Herr der Welten sie als Menschen erschaffen und als Kinder Adams – »Wir haben die Kinder Adams geehrt« – der Friede sei auf ihm – geehrt hat, daß sie zur Nation Abrahams – der Friede sei auf ihm – gehören und zur Gemeinde Sayyidina Muhammads – Allah schicke Frieden auf ihn und seine Leute und Segen. Muslime sind glücklich, daß Er sie in die Existenz gebracht hat auf diesem Planeten, sie in jeder Sekunde ihres Lebens darin erhält und sie liebt und nach ihnen sieht.
Und wir erinnern uns jener Antwort, die Sayyidina Musa – der Friede sei auf ihm – vom Herrn der Welten auf die Frage erhielt, woran wir nämlich erkennen könnten, daß unser Herr mit uns zufrieden sei: »Wenn du glücklich bist mit Mir, ist das ein Zeichen dessen, daß Ich zufrieden bin mit dir!« Kant hatte als Philosoph die Offenbarung außen vor gelassen. Als Muslim hätte er die Lösung seines Problems auch insofern leicht finden können, als wir schon im Diesseits nicht genau wissen, was für uns letztendlich etwas Gutes oder etwas Übles ist, da etwas, das uns auf den ersten Blick als etwas Schlechtes erscheint, sich im nachhinein als ausgesprochener Glücksfall erweisen kann.
So gibt es im Koran die berühmte Geschichte, da Sayyidina Musa – der Friede sei auf ihm – die Erlaubnis bekommt, Sayyidina Khidr – alaihi salam – eine Zeit auf seinem Weg zu begleiten, der Sachen macht, die Moses überhaupt nicht versteht, ja, für die er überhaupt kein Verständnis hat. So geht Sayyidina Khidr in ein Fischerdorf und hackt in die Böden der Boote Löcher, so daß sie schwimmuntauglich werden, was Moses sehr erbost. Diese Tat erweist sich für das Dorf indes als große Wohltat, weil die Häscher des Herrschers alle Boote konfiszieren, derer sie habhaft werden, die fahruntüchtigen Boote dieses Dorfes aber nicht beschlagnahmen, die deshalb, wieder repariert, dann dessen Lebensunterhalt weiterhin sichern.
Wissen wir aber nicht einmal im Diesseits genau, ob etwas schlecht oder nur der vermeintlich schlechte Vorbote zu etwas Gutem ist, so gilt das, wenn wir das Jenseits mit berücksichtigen, nur um so mehr. Einst fuhr die heilige Ursula – möge Allah ihre Seele heiligen – mit hundert Jungfrauen den Rhein hinunter, als das Boot von Hunnen überfallen wurde und es zu Umständen kam, deretwegen sie heilig wurde. Und der Zimmermann in Suratu l-Yâ Sîn konnte sagen: »Wenn ihr wüßtet, wo ich jetzt bin!« Böse Leute hatten ihm mit den Worten: »Was, du willst auch ins Paradies, das kannst du haben!« den Schädel eingeschlagen und bewirkt, daß er sofort ins Paradies kam. Al-hamdu lillâh.
Das sind Beispiele dafür, wie größte Brutalitäten, recht besehen, zu Quellen größten Glücks werden. Um es ganz platt zu sagen: Epikur und alle, die ihm Beifall klatschen, haben die eine, die entscheidende Seite der Wirklichkeit ganz weggelassen, die Ewigkeit nämlich. Sie gilt uns als die eigentliche Wirklichkeit. Wir Muslime glauben, daß, während die Welt, in der wir jetzt als endliche Wesen leben, begrenzt ist, nach unserem Tod eine unendliche Welt auf uns wartet. Und diese Unendlichkeit tragen wir schon jetzt in uns. Es ist das Siegel dessen, der uns erschuf und zu dem wir auf der Rückreise sind. Wir sind nur für eine kurze Übergangszeit auf diesem Planeten. Es ist so wie mit einem Reitersmann, der durch eine Steppe reitet und im Schatten eines Baumes eine kurze Verschnaufpause einlegt, ohne vom Pferd zu steigen, sich nur an den Stamm lehnt und ein paarmal kräftig durchatmet, um dann seine Reise fortzusetzen. Denn wir Menschen sind nicht für das Diesseits, sondern für die Ewigkeit geschaffen. Und wir glauben, daß alles, was uns geschieht, für uns das Beste ist.
Epikur würde das Glück der heiligen Ursula, möge Allah sie segnen, nicht verstanden haben, weil einer, der nur dem augenblicklichen Genuß lebt, dem Jenseits gegenüber nur blind sein kann. Kant aber ahnte wenigsten Sayyidina Ayyûbs (Hiobs) Glück. Und der Zimmermann in Yâ Sîn. Das sind unsere Vorbilder und nicht jene “Schweinchen aus der Herde des Epikur”, wie man sie genannt hat, die nach dem Prinzip antreten: »Saufen, fressen, geschlechtlich paktieren, darüber hinaus keine Sekunde verlieren«.
Vor Jahren hatte einmal die Bischöfin Käßmann einen Kirchentag mit den Worten beendet: »Gott kann die Welt verändern!« – Dieser Satz hat eine eigenartige Ambivalenz: Einmal scheint die Frau mit ihm den Glauben gegen bestimmte Kritiker in Schutz zu nehmen, die es aufgegeben haben, zu versuchen, die Übel in der Welt unter der Voraussetzung eines guten Gottes zu rechtfertigen. Wenn der Satz von Frau Käßmann eine Antwort auf das Theodizee-Problem sein soll, dann ist es eine sehr ungeschickte. Denn er klärt nur den Punkt der Allmacht Gottes, welche im Theodizee-Problem per definitionem durch die Verwendung des Begriffs Gottes recht verstanden schon vorausgesetzt war. Damit aber verschärft sich doch das eigentliche Problem, welches dann lautet: Ja, Frau Käßmann, wenn er die Welt verändern kann, warum tut er es dann nicht? Ist er kein guter Gott? Doch ist der Käßmann-Satz nicht bloß deshalb eigenartig, weil er das Theodizee-Problem kurioserweise nurmehr verschärft, das er auf den ersten Blick zu mildern scheint. Er ist auch deshalb eigenartig, weil er suggeriert, Gott habe bislang zwar nicht in den Weltenlauf eingegriffen, könne es aber. Für Muslime ist das eine sehr primitive Vorstellung von Gott. Denn sie leugnet, daß, alles was geschieht, immer schon durch Ihn geschieht.
Als Muslim deute ich alles, was mir geschieht, nicht als Wechsel von Eigenschaften an Dingen, nämlich als Physisches, sondern als den an mich persönlich gerichteten Ausdruck des Willens dessen, der mich geschaffen hat, mich liebt und nach mir sieht. So heißt es in einem Hadidh Qutsî: »Ich war ein verborgener Schatz und war nicht erkannt, aber Ich wünschte, erkannt zu werden, darum erschuf Ich die Geschöpfe und gab Mich ihnen zu erkennen, und sie erkannten Mich.«
Zu glauben, daß Gott in die Welt eingreifen könnte, ist so daneben, weil es wahr ist, daß alles, was existiert, schon durch Ihn existiert, und alles, was geschieht, schon durch Ihn geschieht und jedes Atom durch Ihn in seiner Existenz erhalten wird, weil Er der Macher ist, neben dem es keinen anderen Macher gibt. Im heiligen Koran heißt es in der Sure 19 Mariam, im Vers 35: »Es steht Allah nicht zu, Sich ein Kind zu nehmen. Preis sei Ihm! Wenn Er eine Angelegenheit bestimmt, so sagt Er dazu nur: ,Sei!‘, und so ist es«.
Hier stellt sich noch einmal verschärft die Frage, ob die angeblichen Übel der Welt nurmehr in fehlgeleiteter Einbildungskraft begründet sind. Es gibt dazu zwei sehr wichtige Koran-Passagen: Die eine lautet: »Und wenn sie etwas Gutes trifft, sagen sie, ,Das ist von Allah.‘ Und wenn sie etwas Böses trifft, sagen sie: ,Das ist von dir‘. Sprich: ,Alles ist von Allah‘. Was ist mit diesem Volk, daß sie beinahe keine Aussage verstehen?« [Koran 4:78] Und ein paar Zeilen später heißt es: »Und was dich an Gutem trifft, ist von Allah, und was dich an Bösem trifft, ist von dir selbst. Und wir haben dich als Gesandten für die Menschen gesandt. Und Allah genügt als Zeuge.« [Koran 4:79]
Diese beiden Stellen scheinen auf den ersten Blick miteinander im Widerspruch zu stehen. Und doch gibt es eine sehr schöne Möglichkeit, beide Stellen in einem geradezu wundersamen Einklang zu sehen, wenn man davon ausgeht, daß erstens alles, was von Allah kommt, etwas Gutes ist, und zweitens alles, was uns geschieht, von Allah kommt. Dann würde die die oben zitierte zweite Koran-Passage nämlich bedeuten: … was dich an Gutem trifft, ist von Allah, und was dich an ,Bösem‘ trifft, ist von dir selbst, sofern du in einer bestimmten Art von Irrtum befangen bist, sofern du es eben selbst bist, der es sich als ,böse‘ vorstellt.
Oder anders herum: Wenn gilt: Alles ist von Allah, und wenn gilt: Was von Allah kommt, ist gut, dann folgt daraus: Alles ist gut. Daraus folgt, daß der Eindruck von etwas Bösem Irrtum sein muß und die ganze Theodizee-Problematik auf einer falschen Voraussetzung ruht. Wir verstehen es nur nicht, weil wir zu dumm, zu eingebildet oder in bestimmter Weise befangen sind. Deshalb sollten wir beten: » O Allah, wir bitten Dich, laß uns erkennen, daß alles, was uns geschieht, gut ist, weil es von Dir kommt!
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